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4.1. Vorläufer:innen

Aktualisiert: 19. Feb. 2023


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Das Ziel des 4. Kapitels ist es, zu zeigen, wie die Geschichte von Glitch Art oft entlang klassisch differenzierter Medientechnologien erzählt wird – Malerei, Film, Computergame, Videokunst, Netzkunst, usw. – während diese dabei zeitgleich in ihren Spezifitäten hinterfragt und aufgelöst werden. Um dies darzulegen, bespreche ich sowohl Beispiele aus einem etablierten Kanon der Geschichte von Glitch Art, als auch Anwendungen von Glitch, die auf den ersten Blick möglicherweise nicht zur Glitch Art gezählt werden müssen, jedoch in meiner Argumentation für deren Verbreitung und die Entwicklung einer Glitch Ästhetik prägend mitverantwortlich sind. Was einen Kanon von Glitch Art ausmacht, ist keine unproblematische Frage. Dem nachzugehen, bildet einen Teil dieser Untersuchung. Es gibt allerdings einige erkennbare Tendenzen sowie Vereinigungen in den Quellen- und Querverweisen, Erwähnungen und Beispielen, die wiederholt verwendet werden. Die Fragestellung, der hier nachgegangen wird, lautet: Durch welche hybriden medialen Hintergründe haben sich gegenwärtige Glitch Ästhetiken etabliert und wie verknüpfen sich technologische Zusammensetzung, sinnlicher Eindruck und Subjektivierung darin; visuelle Glitch Artefakte mit rebellischen Glitch Praktiken?

Die Glitch Art wird häufig in eine lineare historische Entwicklung der visuellen Kunst im 20. Jahrhundert eingeordnet, wofür sowohl stilistische, strategische und technologische Vorläufer:innen, als auch Glitch Art avant la lettre aufgeführt werden.[1] Es sei dahingestellt, wie sinnvoll ein solcher Ansatz ist, wenn er zu generalisierenden Aussagen führt wie "In a sense, all modern abstraction could be construed as proto-glitch"[2]. Ich gehe hier jedoch kurz auf diese Unternehmen ein, da sie nicht zuletzt über ihre Implikationen durch die Vorbot:innen auch Aussagen darüber treffen, wie Glitch Art heute verstanden wird. Ich unterlasse allerdings eine ausführlichere Untersuchung dieser längeren Geschichte und Geschichtsschreibung zugunsten einer breiter angelegten in der jüngeren Vergangenheit, welche im nächsten Kapitel folgt. Ausserdem konzentriere ich mich hier, wie bereits angesprochen, auf die visuellen Beispiele. Eine auf die auditiven Glitches ausgeweitete Untersuchung würde sicherlich sowohl Namen wie John Cage und Lou Reed[3] einbeziehen, als auch die längere Geschichte von Noise und Glitch Music,[4] die im Kontext der visuellen Glitch Art seit den frühsten Momenten der Begriffsverwendung erwähnt wird.[5] In dieser historischen Herleitung von Glitch Art werden Genres, Tendenzen und Beispiele aus der Geschichte der Kunst aufgeführt, die als Vorläufer:innen das Genre sowohl ankündigten, als auch mitprägten, bevor der Begriff des Glitches, geschweige denn der Glitch Art geprägt war oder die für Glitches verantwortlichen Technologien überhaupt existierten. Dabei gibt es drei nicht in jeder Hinsicht getrennte Ansätze, respektive Kriterien. Zusammengefasst ist das erstens die Figur der Abstraktion, zweitens diejenige der Zer-Störung und drittens die des Zufalls.


Abstraktion


Die Rolle der Abstraktion ist für die historische Herleitung von Glitch Art dann von besonderem Belang, wenn es um Argumente geht, die in ihren Herangehensweisen einen Weg sehen, auf die pure, reduzierteste Form des Mediums Zugriff zu erhalten. Symbolische und narrative Elemente, so diese Argumentationslinie, lenken von der Spezifik des Mediums ab, indem sie Formen von vorausgehenden Medien übernehmen und in der Bedeutung oder im Sinn die eigene Beschaffenheit verdecken. Die Glitch Art in eine Linie mit einem kunsthistorischen Kanon der abstrakten Malerei zu setzen, kommt diesbezüglich häufig vor und ist vielleicht nicht zuletzt auch ein Versuch der Validierung des Genres selbst. Kane führt beispielsweise Kandinsky, Rothko, Pollock und Mondrian auf,[6] Moradi den Kubismus[7] und Goriunova & Shulgin die russischen Bewegungen von Kubofuturismus, Abstraktionismus, Rayonismus und Suprematismus.[8] Den direkten Einfluss der später aufgekommenen Op Art auf sein Schaffen bemerkt Temkin in Bezug auf die Glitchometry Stripes Serie.[9]

In der abstrakten Malerei des frühen 20. Jahrhunderts wurde neben der Erkundung einer neuen Ästhetik, geprägt durch die maschinelle Entwicklung und Vervielfachung der Perspektive, auch entgegen einer Konvention Kunst gemacht. Die Tradition, in welcher das zentralperspektivische Bild im Zentrum steht, wurde etwa vom Kubismus gebrochen, indem dieser die Perspektive sprengte und vervielfachte. In diesem Bruch liegt aber nicht nur eine Zerstörung, sondern damit verbunden eine Kritik und – wie Virilio argumentiert – eine neue Form des künstlerischen Realismus, getragen von den neuen technischen Möglichkeiten der Zerstörung. "WWI blew reality into pieces and Braque collected them in his paintings"[10]


Zer-Störung


Eine Zerstörung mit generativem Charakter bildet den zweiten Punkt, anhand welchem die Glitch Art in früheren Formen der Kunst verortet wird. Diese Begründung folgt dabei einer der Glitch Art als inhärent zugesprochenen Ästhetik und Ideologie einer Systemstörung, die durch Transformation zur Systemzerstörung führen kann. Die disruptiven und destruktiven Momente werden dabei positiv, respektive produktiv umgedeutet.


"I think destruction goes into cutting, assaulting, even burning other people’s images," sagt Nakamori, Kurator des Museums of Fine Arts, Houston im Kontext einer Ausstellungsreihe zur Zerstörung in 2012. “But at the same time, artists are doing this to destroy the way we see the world, which can be kind of provincial and narrow. The pictures try to destroy that kind of single, monolithic way of thinking about history."[11]


Ein Aspekt dieser Verortung ist der direkte Eingriff in die Medienmaterialität von Aufzeichnungs- und Übertragungstechnologien, worin deren Bezug auf eine vormediale Welt kritisiert und rekonstruiert wird. Beispiele hierfür finden sich in den Werken des Direct Filmmaking, in welchen die Kameraaufnahme einer profilmischen Realität durch das Bemalen und Einritzen des Filmmaterials nebst anderen Techniken ersetzt wird.[12] Menkman nennt diesbezüglich Len Lye als frühen Noise Artist, sowie, in Bezug auf CRTs anstelle von Celluloid, den später wirkenden Nam June Paik.[13] Unter diesem studierte nebenbei erwähnt Dirk Paesmans, bevor er mit Joan Heemskerk das Künstler:innenduo JODI gründete.[14]


Auch Betancourt verkündet hinsichtlich der Glitch Art in Digital TV Dinner "a direct parallel [to] those avant-garde films made by scratching the film stock, direct animations that hand-paint their imagery without a camera, or photogram and collage techniques – such as in Man Ray's Retour à la raisonne (1923), or Stan Brakhage's Mothlight (1961) made without photohraphy."[15] Er führt aus "This approach [of Digital TV Dinner] is the same engagement with the materiality of digital technology that has an analogue in the earlier materiality of both film (dirt, flicker, grain, scratches, etc.) and video (signal decay, interlacing, ghosting, etc.)."[16]


Die zwei Trajektorien von disruptiver und destruktiver Kunst, die auf der einen Seite Systeme angreifen – seien dies gesellschaftliche, künstlerische, politische, usw. – auf der anderen gegen das Material der Werkproduktion mit zerstörerischen und den Konventionen entgegengesetzten Methoden vorgehen, treffen im 20. Jahrhundert auf exemplarische Weise im Wirken von Gustav Metzger und dessen Überlegungen zusammen. [17] Moradi bezeichnet die Glitch Art als eine direkte Nachfahrin dessen Auto-Destruktiver Kunst.[18]


Zufall


Ein weiterer Ansatz verankert die Glitch Art in der Kunst, welche sich dem Zufall bedient und in der Hinsicht nicht von Anfang bis Ende einem geplanten Prozess, beziehungsweise Design folgt, über welche die Künstler:innen als Autor:innen Kontrolle auf das Material ausüben.

Der Charakter von Zufall in der Kunst reicht weit zurück. Er kann etwa in der Vorliebe für nicht inszenierte Szenen in der Malerei konstatiert werden.[19] In den materialistischen Experimenten der modernen Kunst wird der Status des Zufalls dementgegen weiter kondensiert mit Methoden, die ihrerseits weniger kontrollierbar sind, wie Spritzer von Farbe oder der Einsatz von Ready-mades. Pieschel erwähnt hierfür Werke von Joan Mitchell und Jackson Pollock deren Strukturen den Austausch von Absicht und Zufall im Prozess der Herstellung aufzeigen.[20] Die Einführung des Zufalls in die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhundert, zusammen mit dem Unbewussten und dem Irrationalen wird teils als Reaktion auf den Einfluss der Rationalität und Funktionalität durch die steigende Verbreitung von Maschinen in jeglichen Lebensbereichen gedeutet.[21] Umgekehrt hängen Zufallselemente mit maschinellen Prozessen in der Produktion von Kunst zusammen, worin die Kontrolle der Künstler:innen bis zu einem bestimmten Grad an Technologien abgegeben wird, die nicht vorhersehbaren Einfluss ausüben.

Unter den Bedingungen von technischen und programmierten Medien in der Kunst nimmt die Rolle des Zufalls nochmals einen neuen Charakter an. Für die Videokunst, welche als direkte Vorläuferin – zeitlich und technologisch – oder sogar als frühe Form von Glitch Art genannt wird, liefert Stephen Beck einen erhellenden Beitrag:


"Contrary to popular notions, creating images with the video synthesizer was not a totally random act. Clear thoughts of the image's electronic structure lead to patching specific patterns. However, many times random discoveries would also occur, some interesting, others not."[22]


In dieser dem Unfall und Zufall nicht abgeneigten Position ist das Spiel zwischen der wissenschaftlichen Präzision, der für die Kunst verwendeten Geräte, und der experimentellen, aleatorischen Herangehensweise erkennbar. Ähnlich wie in der Glitch Art ist eine Dialektik am Werk, zwischen dem ausgiebigen Wissen von bestimmten Technologien auf der einen Seite und dem unberechenbaren oder unerwarteten Verhalten derselben Technologien, wenn sie an ihre Limite getrieben werden, auf der anderen.[23] Benjamin Berg beschreibt diesen Zwiespalt in Bezug auf den Glitch und schliesst den Bogen zur abstrakten Malerei:


"You had painters who were more concerned with exploring the nature of paint and canvas than with 'representing' some physical object or scene. Glitch practices are like that stuff, but because digital structures are more hidden, you can do things where even if you know pretty much what’s going to happen, you don’t really know what the end result will look or sound like. It’s not really chance, because there are rules governing it, but it feels like chance because you don’t understand those rules. Even if you have a good grasp of something like JPEG compression, you probably can’t look at the code and tell what the image is going to look like. So it’s a way of creating things that you wouldn’t have thought of yourself, just as in the tradition of John Cage, Bryon Gysin, etc."[24]



Neben dieser weiter zurückreichenden Suche nach Vorfahren der Glitch Art werden die Assoziationen mit dem Aufkommen von Video- und Computertechnologien direkter, bis eine Trennung in Vorläufer:innen und Glitch Art nicht mehr möglich ist, ohne eine mehr oder weniger arbiträr gesetzte Zäsur vorzunehmen. Ganz explizit ist hier Videokunst, Circuit Bending und Generative Art zu nennen,[25] welche allesamt komplexe Beziehungen zur Glitch Art aufweisen und seit den 1960er-Jahren für die Verbreitung von zahlreichen, nicht eindeutig definierbaren Hybriden verantwortlich sind.

[1] Vgl. Kane, 2019: S. 48 ff.; Moradi, 2004: S. 19 ff.; Briz, Nick. Glitch Art Historie[s]. 2011. http://nickbriz.com/files/glitchresearch/GlitchArtHistories2011.pdf (Stand: 17.02.2023). Nick Briz greift diesen Ansatz einer Herleitung durch historische Vergleiche in seinem Text Glitch Art Historie[s] kritisch und provokativ auf. [2] Kane, 2019: S. 49. [3] Vgl. Temkin & Manon, 2011: S. 2. [4] Vgl. Cascone, 2000. [5] Vgl. Motherboard. Glitch Festival and Symposium. 2002. http://www.liveart.org/motherboard/glitch/ (Stand: 02.02.2023). [6] Kane, 2019: S. 49. [7] Vgl. Moradi, 2004: S. 19. [8] Goriunova & Shulgin, 2008: S. 112. [9] Vgl. Temkin, Daniel. Glitchometry Stripes. 2013, 2016. https://danieltemkin.com/Glitchometry/Stripes (Stand: 17.02.2023). [10] Lotringer & Virilio, 2005: S. 15. [Das Zitat hier stammt von Silvère Lotringer nicht von Paul Virilio. Lotringer stellt in diesem Absatz jedoch eine Frage an Virilio zur Bestätigung dessen Position, die dieser bejaht.] [11] Pollack, Barbara. Under Destruction. 2012. https://www.artnews.com/art-news/news/under-destruction-551/ (Stand: 17.02.2023). [Nakamori spricht in diesem Kontext von den Werken von John Heartfield und Martha Rosler und nicht im direkten Zusammenhang mit Glitches.] [12] Vgl. Smythe, 2013: S. 77 f. [13] Vgl. Menkman, 2011b: S. 33. [14] Vgl. Adang, 2014, S. 10. [15] Betancourt, 2017: S. 6. [16] Ebd.: S. 9. [17] Vgl. Metzger, Gustav. Auto-Destructive Art. http://radicalart.info/destruction/metzger.html (Stand: 17.02.2023) [18] Vgl. Moradi, 2004: S. 34. [19] Vgl. Arnheim 1971: S. 9 f. [20] Vgl. Pieschel, 2014. [21] Vgl. Goriunova & Shulgin, 2008: S. 114. [22] Beck, Stephen. Beck Direct Video Synthesizer. 2000. http://people.wcsu.edu/mccarneyh/fva/b/BeckDirectVideo.html (Stand: 17.02.2023). [23] Vgl. Zinman, 2020: Kapitel "Stephen Beck: 'A Personal Visual Instrument'." [24] Berg, Benjamin zit. nach: Zinman, 2015: S. 107. [25] Vgl. Manon & Temkin, 2011: S. 2.

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